(Lingen) Wenn Anne Scherger (73), Pinchas Katz (68) und Simon Göhler (20) am kommenden Montag im Emslandmuseum in Lingen das Buch „Der Jüdische Friedhof in Lingen“ [ISBN 978-3-9 80 56 96-5-1] vorstellen, wird auch Bernhard Grünberg aus England dabei sein.

Der 86-jährige Ehrenbürger der Stadt Lingen hat eine besondere Beziehung zum jüdischen Friedhof: Es ist sein ausdrücklicher Wunsch, hier seine letzte Ruhestätte zu finden. Der Grabstein, der zugleich ein Gedenkstein für seine ermordeten Eltern Bendix und Marianne Grünberg und seine Schwester Gerda ist, wurde 1998 aufgestellt.

Elf Jahre lang hat Anne Scherger an ihrem Beitrag zur Geschichte der Juden aus dem Raum Lingen recherchiert. „Durchaus mit kriminalistischem Spürsinn“, wie die frühere Lehrerin an der Marienschule im Gespräch mit unserer Zeitung betont. Herausgeber des 144-seitigen Buches ist das Forum Juden- Christen Altkreis Lingen e.V. in Verbindung mit dem Heimatverein Lingen.

Seit vielen Jahren ist ihr die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in Lingen ein Herzensanliegen. In ihrem 1998 erschienenen Buch „Verfolgt und ermordet“, herausgegeben vom Arbeitskreis Judentum-Christentum und Pax Christi, beschreibt sie die Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation und in den Konzentrationslagern. Den Anstoß, ein weiteres Buch zu schreiben, gaben Mitglieder des Forums Juden-Christen anlässlich der öffentlichen Führungen über den Jüdischen Friedhof. „Insbesondere Bernhard Neuhaus bat mich, die Kenntnisse schriftlich festzuhalten.“

250 Jahre bestand die jüdische Gemeinde in Lingen. 70 Grabsteine und drei Erinnerungssteine befinden sich auf dem Jüdischen Friedhof. Der älteste Stein von 1770/71 steht für den Beginn jüdischen Lebens in Lingen. Anne Scherger gelang es in einer immensen Fleißarbeit, Informationen über die Familiengeschichten der Menschen zusammenzutragen, deren Grabsteine noch existieren. Sie erzählt aber auch vom Schicksal der Familienmitglieder, die nicht in heimatlicher Erde ruhen, sondern als Folge des Holocaust kein Grab haben oder irgendwo in der Fremde beerdigt sind. Dabei wurde sie von dem Künstler Pinchas Katz aus Dortmund, einem Absolventen der Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem, unterstützt. Den Einband des Buches ziert die Wiedergabe eines Ölgemäldes, das Katz im letzten Jahr vom Eingang des Friedhofs fertiggestellt hat.

Frau Scherger dankte auch dem 20-jährigen Abiturienten Simon Göhler (Franziskus-Gymnasium), der sich in einem Seminarfach mit der jüdischen Geschichte in Lingen befasste und bei einer Führung über den Friedhof Frau Scherger kennenlernte. Der junge Mann sorgte für die Eingabe der hebräischen und deutschen Grabsteintexte in den Computer, formatierte die Texte und scannte die Bilder ein.

Durch die Arbeit von Frau Scherger entstanden spezielle Chroniken zum Beispiel über die Familien Herz und Hanauer. In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts lebten 98 Menschen jüdischen Glaubens in Lingen, darunter vor allem Kaufleute und Viehhändler. Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden die meisten ermordet. Besonders tragisch: Die nach Holland, Belgien und Frankreich emigrierten Juden wurden von den NS-Schergen nach der Besetzung der Nachbarländer eingeholt und in die Vernichtungslager deportiert.

Doch selbst außerhalb von Europa blieb Juden die Zuflucht versagt. Im Mai 1939 legte das Schiff „St. Louis“ der Hamburg-Amerika-Linie mit 930 jüdischen Flüchtlingen an Bord in Hamburg mit dem Ziel Havanna (Kuba) ab. Darunter war auch der damals 59-jährige Viehhändler Max Frank aus Lingen. In Havanna angekommen, erklärten die kubanischen Behörden die Landeerlaubnis der Passagiere für ungültig. Die „St. Louis“ musste Havanna verlassen und steuerte in Richtung Florida. Aber Präsident Roosevelt und sein Kabinett verweigerten die Aufnahme der Flüchtlinge. Im Juni musste das Schiff wieder nach Europa fahren. Max Frank wurde später in Belgien von der Gestapo gefasst und nach Auschwitz deportiert, wo er im September 1942 ermordet wurde.

Für die Recherchen war Anne Scherger kein Weg zu weit. So entdeckte sie im Jahr 1999 in der peruanischen Hauptstadt Lima auf dem dortigen Jüdischen Friedhof die Gräber von Johanna Grünberg-Mendel (geb. 1872 in Lingen) und Nathan Grünberg aus Meppen (geb. 1870).

Simon Göhler hat durch seine Mitarbeit an dem Buch vieles gelernt. Eines hat er aber nicht verstanden: „Ich weiß nicht, was sich Menschen gedacht haben, als sie ihre Mitbürger öffentlich demütigten.“ Auf die Kernfrage, wie die Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bürger passieren konnte, weiß auch Anne Scherger keine Antwort: „Es ist unmöglich, heute den Zeitgeist während der Nazi-Herrschaft zu vermitteln.“ Pinchas Katz, ein Jude, der viele Jahre in Israel gelebt und zahlreiche Angehörige in der Schoah verloren hat, hörte kürzlich in Dortmund den Vortrag eines Professors über den Holocaust. Dabei stellte der Professor fest, dass die Judenvernichtung trotz aller Forschungen nicht zu begreifen ist.

Quelle: OZ-Osnabrücker Zeitung, vom 09.05.2009 - von Ludger Jungeblut

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