Inspiriert durch den "Elternalarm", hat die Germanistin Prof. Dr. Cornelia Blasberg an der Universität Münster eine Schreibwerkstatt zum Thema "Familiengeschichten" angeboten. Rund 60 Studierende, überwiegend Lehramtskandidaten, nahmen daran teil. WN-Redakteur Klaus Baumeister hat sich mit Prof. Blasberg darüber unterhalten.
[Quelle: Westfälsiche Nachrichten vom 2.7.2008, Ausgabe Münster]


Studierende beschreiben die eigene Familien-Geschichte. Ist das ein neuer Trend?

Blasberg: In der Literatur auf jeden Fall. Familienromane, die einen Bogen über zwei bis drei Generationen schlagen, sind hochaktuell. Auch die Essays, Kurzgeschichten und Porträts, die in unserer Schreibwerkstatt entstanden sind, belegen das große Interesse junger Menschen daran, sich ihrer Herkunft bewusst zu werden. Sie suchen die Auseinandersetzung mit Eltern und Großeltern.

Woran liegt das?

Blasberg: Wir leben in einer Gesellschaft mit großen Freiheiten, aber auch großen Unsicherheiten. Es gibt keine Lebensentwürfe mehr, die man einfach so übernehmen kann. Also fragen viele, wie es die Eltern und Großeltern gemacht haben. Das heißt nicht, dass man deren Vorstellungen kritiklos übernimmt. Vielmehr ist es gerade die Mischung aus Nähe und Distanz im Umgang mit Eltern und Großeltern, die jungen Menschen hilft, den eigenen Weg zu finden. Die Kinder suchen das Vertraute, aber auch die Reibungsflächen.

Die Literaturgeschichte ist voll von Autoren, die mit ihren Eltern regelrecht abrechnen. Hat sich das geändert?

Blasberg: Ja, grundlegend. In den 70er Jahren und 80er Jahren gab es die so genannte Vater-Literatur. Viele Autoren beschäftigten sich damals mit der Frage, in welchem Maße ihre Väter in das nationalsozialistische System verstrickt waren. Die Väter waren Täter, Mitläufer, auf jeden Fall schuldig. Im Unterbewusstsein schwang bei den Autoren stets die Frage mit: Was von dieser Unheilsgeschichte steckt in mir? Diese Angst haben die jungen Menschen heute nicht mehr. Es überwiegt eher die Angst, dass die Geschichte entgleitet. Die Studierenden heute haben zumeist Eltern, die sich ihrerseits stark von den Großeltern abgegrenzt haben. Das macht neugierig.

Erforschen die Enkel gemeinsam mit den Großeltern die Familiengeschichte?


Blasberg: Ja, sehr viele Studierende in der Schreibwerkstatt haben ihre Großeltern beschrieben. Dabei fällt eines auf: Die Fragen sind sehr behutsam, die jungen Menschen wollen etwas erfahren, aber sie wollen nicht verletzen.

 

Gibt es den klassischen Patriarchen noch, der alles in einer Familie bestimmt?

Blasberg: Nein. Die heutige Väter-Generation kommt ohne Patriarchen aus. Und selbst wenn es unter den Großvätern noch Patriarchen gibt, so können sich viele Studierende in der Enkel-Generation das nicht mehr vorstellen, weil sie den Opa als einen alten und häufig auch gebrechlichen Menschen erleben.

Wissenschaftler und Politiker prophezeien seit Jahren das Ende der Familie. Was sagen Ihre Studierenden dazu?

Blasberg: Es gibt unter den Studierenden ganz unterschiedliche Ansichten. Manche vermuten, dass die Familienstrukturen komplett zerbrechen, andere wollen zurück zur heilen Welt früherer Jahrzehnte. Die große Mehrheit indes ist auf der Suche nach neuen Formen von Familie. Es geht praktisch um eine Erweiterung des Familienbegriffes. Ein Beispiel: Wenn eine Studentin in ihrem Beitrag laut darüber nachdenkt, ob ihre beste Freundin nicht auch zur Familie gehört, dann kann man erahnen, welch spannender Prozess da im Gange ist.

Aber die Sehnsucht nach verlässlichen Beziehungen ist groß?

Blasberg: Ja. Gerade Studierende entwickeln hierfür eine große Sensibilität. Mit Beginn des Studiums erfolgt traditionell der Auszug aus dem Elternhaus, mit dem Ende des Studiums treten sie in die Berufs- und Familienphase ein. Da liegt es auf der Hand zu fragen: Was aus meinem früheren Leben möchte ich mit hinüber nehmen in mein künftiges?

Nur weg von zu Hause – dieses Lebensgefühl prägte ganze Generationen von Studenten. Gilt es heute noch?

Blasberg: Da muss man differenzieren. Es gibt die so genannten Nesthocker, aber auch jene Familien, die aus finanziellen Gründen zu der Erkenntnis kommen, dass ein Studium nur dann realisierbar ist, wenn der Sohn oder die Tochter zu Hause wohnen bleibt und zur Uni pendelt. Die Mehrheit der Studierenden indes wählt einen dritten Weg: Sie ziehen aus, behalten aber einen engen Kontakt zum Elternhaus. Die Kinder lassen ihre Eltern an dem neuen Leben teilhaben – und umgekehrt.

Empfinden Studierende ihre Beziehung zu den Eltern als kostbar?

Blasberg: Ja. Die jungen Menschen heute gehen – anders als früher – nicht mehr unbelastet in ein Studium oder eine Ausbildung hinein. Die Berufswelt ist nicht mehr sicher, Zukunftsträume zerplatzen sehr schnell, Kontakte sind oft sehr unbeständig. In dieser Situation suchen Studierende Rückhalt, nicht nur, aber auch in der Familie.

VON KLAUS BAUMEISTER

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