Hundert Jahre Familienforschung in Westfalen: Was lange als alter Hut für alte Leute galt, ist heute ein weit verbreitetes Hobby – zwischen digitaler Recherche, Handy-Apps und DNA-Analyse. Worin liegt der besondere Reiz?
 
Stammbäume und Ahnentafeln stehen nicht nur in westfälischen Bauernfamilien hoch im Kurs.
 
Das haben wir den westfälischen Familienforscher Roland Linde gefragt.
 
Warum sind Sie Familienforscher?
Ich fürchte, ich kann gar nicht anders…
 
Wie meinen Sie das?
Stammbäume und Familienchroniken haben mich schon immer begeistert! Ob der Ahnensaal des Detmolder Schlosses oder die TV-Familiensaga „Roots“: Die Abfolge von Generationen und die Geschichten dahinter haben mich als Kind schon fasziniert. Ich wollte immer wissen, wer meine eigenen Vorfahren sind.
 
Worin besteht für Sie der besondere Reiz?
In alten Aufzeichnungen den Spuren von Menschen nachzugehen, die längst verstorben sind, ihre Geschichten zu erfahren und ihr Leben wieder in Erinnerung zu rufen, das reizt mich immer wieder. Selbst wenn das gar nicht meine eigenen Vorfahren sind ...
 
Wie ist es bei den anderen?
Welche Motive haben die Familienforscher in Westfalen? In bestimmten Lebensphasen beginnen Menschen, nach ihrer eigenen Herkunft zu fragen. Zum Beispiel, wenn Eltern oder Großeltern verstorben sind und ihr Nachlass geregelt werden muss. Oder wenn man sich auf den Ruhestand vorbereitet. Das Interesse war vielleicht schon länger da, aber dann sagt man sich: Jetzt fang
ich endlich damit an. Und dann kommt noch etwas hinzu: Familienforschung bringt viele neue Kontakte mit anderen Forschern und mit entfernten Verwandten, die man bis dahin gar nicht kannte. Das ist vielen Hobbyforschern sogar wichtiger, als die Ahnenreihe so weit wie möglich in die Vergangenheit zu verfolgen.
 
Haben Sie selbst schon einmal etwas Verrücktes, Unerwartetes entdeckt?
Unter meinen Vorfahren habe ich alles gefunden, vom „fahrenden Volk“ bis hin zu Rittern und Edelherren, lustige und dramatische Begebenheiten. Aber noch faszinierender ist das Erlebnis des Forschens selbst. Schon als Schüler durfte ich im Fürstlichen Archiv auf Schloss Berleburg recherchieren, in der Schlossbibliothek mit knarrenden Dielen. Sehr beeindruckend! Und in solch einer altehrwürdigen Umgebung in über 400 Jahre alten Steuerlisten die Namen meiner Urururururgroßväter Linde zu entdecken: Ich fand es schon ziemlich verrückt, dass das überhaupt möglich ist.
 
Wie wird man Familienforscher? Muss man das studieren?
Nein, Familienforscher in eigener Sache kann jeder werden. Die Fähigkeiten dafür kann man sich selbst aneignen. Es gibt gute Anleitungen für Einsteiger oder auch Einführungskurse an Volkshochschulen oder Archiven. Aber man muss dann auch einfach anfangen und selbst Erfahrungen sammeln – ohne Praxis nützt die intensivste Vorbereitung nichts!
 
Roland Linde ist Geschäftsführer der WGGF und Familienforscher aus Leidenschaft. [ externer Link: http://www.wggf.de/ ]
 
Wo und wie fange ich denn am besten an?
Bei sich selbst! Bei den eigenen Eltern und Großeltern, mit Dokumenten aus Ihrem Familienbesitz. Wenn man erstmal gesichtet hat, was in Schubladen und hinteren Ecken liegt, hat man eine Grundlage. Man braucht einen konkreten Ansatzpunkt, etwa den Geburtstag und -ort der Großmutter. Dann kann die Recherche beginnen. Die Basisquellen sind die standesamtlichen Personenstandsregister und vor deren Einführung im Jahr 1874 die Kirchenbücher. Sie liefern uns das Skelett an Namen und Daten: Geburt, Heirat, Tod. Aber dann sollte auch „Fleisch an die Knochen“ kommen und dafür gibt es ein breites Spektrum an Quellen: Einwohnermeldekarteien, Adressbücher, Grundbücher, Gerichtsprotokolle, Testamente, Eheverträge, Steuerlisten, Flurkarten, Totenzettel, Grabsteine, Hausinschriften und und und.
 
100 Jahre Familienforschung in Westfalen
 
Wie hat sich die Arbeit der Familienforschung in den zurückliegenden Jahren gewandelt?
Der Computer und das Internet haben auch hier vieles verändert – etwa in der Art, wie wir Daten erfassen, wie wir den Überblick über unsere Forschungsergebnisse behalten oder wie wir uns mit anderen Forschern austauschen. Man kann heute von zu Hause aus zu jeder Tages- und Nachtzeit in Archiven und Bibliotheken recherchieren – und das weltweit! Ich weiß das sehr zu schätzen, möchte aber die Recherche vor Ort nicht missen, auch nicht das Erlebnis, jahrhundertealte Schriftstücke in der Hand zu halten. Und es ist auch noch längst nicht alles online
 
Wie seriös sind die digitalen Medien, etwa die Apps und Internetseiten wie „Familysearch“?
Sie eröffnen Möglichkeiten, von denen man früher kaum träumen konnte. Man muss allerdings lernen, mit großen Online-Datenbanken wie Familysearch sinnvoll umzugehen. Sie können nützliche
Hilfsmittel sein. Aber gerade als Anfänger kann man schnell in der Datenflut ertrinken, ohne zu verlässlichen Ergebnissen zu gelangen.
 
Eine der neuen, umstrittenen Methoden ist die Vorfahrensuche per DNA-Analyse. Was halten Sie davon?
In einzelnen Fällen kann eine DNA-Analyse genealogische Fragen beantworten, die sich anhand der Schriftquellen nicht klären lassen. Aber die Standardtests, die von großen Firmen angeboten und massenhaft genutzt werden, sehe ich sehr skeptisch. Man gibt hier intimste Informationen über sich aus der Hand und erhält dafür nur sehr vage Auskünfte. Was zukünftig mit den DNA-Proben geschieht und wofür sie verwendet werden, ist völlig ungewiss. Außerdem verschweigen DNA-Analysen das Wichtigste ...
 
... und das wäre?
Nun ja, ich möchte über meine Vorfahren wissen, wie sie hießen, an welchen Orten sie lebten, welchen Berufen sie nachgingen, was ihr Leben geprägt hat, welche konkreten Schicksale sie zu meistern hatten und so weiter. DNA Analysen sagen mir darüber nichts. Der Erfolg dieser Tests zeigt allerdings, wie groß weltweit das Interesse der Menschen an der eigenen Herkunft ist.
 
Haben Sie noch einen persönlichen Tipp für Anfänger?
Ich würde ihnen vor allem eines raten: Falls es am Geburtsort der Vorfahren oder am Ort des jeweiligen Hofes ein fachlich betreutes Stadt- oder Gemeindearchiv gibt –einfach danach googeln–, dann sollten sich Anfänger als Erstes dort hinwenden. Und sie sollten schauen, welcher genealogische Verein sich um diesen Ort oder die Region kümmert. Archivare und erfahrene Familienforscher unterstützen Einsteiger gerne. Sie nehmen ihnen allerdings nicht die Arbeit ab. Sich ins Thema reinfuchsen und forschen muss man schon selbst. Und darin liegt ja auch der
Spaß.
 
 
Quelle: Wochenblatt 11/2020 S.92-93
externer Link >  https://www.wochenblatt.com/

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