Der Großvater erzählte ihr einst Gruselgeschichten. Jene vom mordenden Dorfbäcker lässt Gisela Rath keine Ruhe. Als 84-Jährige begibt sie sich auf Indiziensuche – und bringt die ganze Wahrheit des historischen Falls ans Licht.

Von Till Weingarten

 

 Der Tatort: Kosel bei Eckernförde, An der Kirche 4, ein altes, reetgedecktes Bauernhaus. Vor gut 160 Jahren. Der Mörder ist der Bäcker, er verwendet Arsen. Er kriecht in den Hohlraum des Dachbodens, bohrt ein kleines Loch in die passende Stelle der Decke, direkt über dem Küchentisch. Von dort kann er seine ahnungslosen Opfer, ein Ehepaar, klammheimlich beobachten. Langsam lässt er das Gift herunterrieseln in die Teller mit der Buttermilchsuppe. Erst stirbt der 69-jährige Klaus Kuhr. Der Arzt diagnostiziert später „Leberentzündung“. Als ein Jahr danach plötzlich nach dem Essen unter Krämpfen auch Catharina Kuhr mit 50 Jahren aus dem Leben scheidet, geht die Polizei der Sache nach. Arsenhaltige Suppenreste unter dem Birnbaum im Garten werden dem Täter zum Verhängnis.Was sich wie aus einem Krimiroman von Agatha Christie liest, soll sich 1847 tatsächlich zugetragen haben. So hat es Gisela Rath, 84 Jahre, die Haare ergraut, große Brille, recherchiert. Die Eckernförder Rentnerin gibt es tatsächlich, auch wenn man sie durchaus mit der fiktiven Kultfigur Miss Marple vergleichen kann. Ebenso hat es den Doppelmord gegeben, von dem Raths Großvater ihr im Kindesalter erzählte. „Er hat mir viele Geschichten erzählt, aber was davon wahr war, das kann man als Kind nicht einschätzen. Alles, was mit ,früher‘ anfing, war vorbei, das war Geschichte.“

Die Gruselgeschichte mit der Buttermilchsuppe konnte Gisela Rath nicht vergessen. So macht sie sich auf die Suche nach Indizien und Beweisen, um dem längst vergangenen Mord in allen Einzelheiten nachzugehen.

1910 erwirbt ihr Großvater den alten Bauernhof schräg gegenüber der Gaststätte „Koseler Hof“. Er berichtet, dass in dem Haus der Dorfbäcker lebte. Dort wohnten auch die alten Bauersleute Kuhr, denen der Hof gehörte. „Es ist damals üblich gewesen, dass der Erbe die Vorbesitzer bis zum Tod versorgte und pflegte, um danach das Erbe anzutreten – der sogenannte Altenteilsvertrag“, berichtet Rath. Auf den natürlichen Tod der beiden Alten zu warten habe dem Bäcker wohl zu lange gedauert. „Offenbar war es Habgier, die den Konditor zu dieser Tat trieb“, konstruiert die Hobbydetektivin ein mögliches Motiv.

Als er endlich ins Gefängnis wandert, atmet das ganze Dorf auf, denn der kriminelle Bäcker hatte noch mehr auf dem Kerbholz, hat Rath herausgefunden. „Aber lange Zeit wollte es sich niemand mit ihm verderben – schließlich aß man von seinem täglich Brote“, zitiert sie aus einer alten Kirchenschrift des Dorfpastors, die sie im Zuge ihrer Ermittlungen aufgespürt hat. Demnach, so Rath, wagte sich kein Koseler, ihn offen wegen Raubes und dreier großer Feuersbrünste zu verdächtigen. „Mordbrände“, nennt dies der Pastor. Die Auszüge findet Rath im Jahrbuch 1957 der Heimatgemeinschaft Eckernförde, wo sie alle Jahrgänge gründlich durchsieht. Zuvor besucht sie Flohmärkte, stöbert nach historischem Material über Kosel, sucht das Zaungespräch mit Koselern. Sie geht zum Grundbuchamt, das aber seine Dokumente nur zurückliegend bis 1900 zugänglich macht.

Der Tipp, dass es 1835 eine Volkszählung gab, führt sie ins Landesarchiv. „Ich habe dort einige Stunden zugebracht, Mikrofilm für Mikrofilm vorbeiziehen lassen.“ Bis sie schließlich sogar den bis dato unbekannten Namen des Täters identifiziert: Joachim August Stark, der Koseler Doppelmörder.

Nachfahren Starks hat sie bis heute noch nicht ausfindig machen können. Die Aufregung in Raths Bekanntenkreis in Eckernförde hält sich in Grenzen, die 84-Jährige erntet Anerkennung bis Kopfschütteln für ihre hartnäckigen Nachforschungen. „Einige meinesgleichen sagten: Ach, wat soll so’n ollen Schiet, wen interessiert das noch?“ Doch in Kosel ist man neugierig, was die alte Dame da so alles ans Licht bringt. Die Gemeinde mit ihren gut 1300 Einwohnern aus den Dörfern Kosel, Bohnert, Missunde und Weseby veranstaltet regelmäßig einen Heimatabend im „Koseler Hof“. Gisela Rath darf hier ihre Ermittlungsergebnisse den Anwesenden präsentieren, als eine von knapp einem Dutzend Referenten.

Der Heimatabend, ein Abend für jedermann, eine bunte Mischung aus Raths kriminalistischen Forschungen, Referaten über Koseler Kniestockhäuser, Erzählungen eines pensionierten Büchsenmachers und plattdeutschen Liedern wie „An de Eck steiht ’n Jung mit ’n Tüdelband“. Ob hier, hoch im Norden der Republik, oder anderswo – derlei Vielfalt mit ausschließlich lokalem Bezug bietet wohl nur so eine Zusammenkunft. „Geschichten und Geschichtchen – das macht die Abende aus“, bringt der einladende Koseler Bürgermeister Heinz Zimmermann-Stock seine Idee auf den Punkt. „Davon lebt unsere dörfliche Kultur, es gibt ein Wirgefühl.“ Und er nennt ein Beispiel für die Strahlkraft der trauten, festlichen Abende: „Nach der Gemeindegebietsreform waren die Bohnerter in ihren Augen in der Rolle des gallischen Dorfes wie bei Asterix und Obelix. Man wollte mit Kosel, Weseby und Missunde nichts zu tun haben. Auch aufgrund der Heimatabende bröckelte die Ablehnung zusehends – einige Bohnerter hissen heute die Flagge unserer Gemeinde.“


Die Heimatabende dienen nicht nur der nachbarschaftlichen „Völkerverständigung“ zwischen Dörfern, sie bieten eine Plattform, besonders fruchtbar für Hobbyforscher wie Gisela Rath. Von Sammlern und Suchern – die moderne Volkskunde braucht diese Laien, die unentwegt einen Stein nach dem anderen umdrehen. „Der Sammler – er sammelt zum Beispiel alle Trachten einer Region, alle Heurechen. Ich will alles haben, dann habe ich die ganze Geschichte abgebildet“, erklärt Wolfgang Kaschuba, Professor für Europäische Ethnologie an der Uni Berlin, die Triebfeder des Sammlertyps. „Sie machen aus der Sammlung eine Ordnung mit dem Grundgedanken: So ordne ich die Welt. Das scheint heute leider nur marottig, damit kommt man in eine Fernsehshow.“ In Wahrheit bereichert es nach Ansicht der wissenschaftlichen Volkskunde die Suche nach Antworten, beim steten Puzzle, wo und bestenfalls warum wir wo herkommen.

Daneben steht der Suchertyp, er entwickelt eine Aufgabenstellung, beispielsweise eine kriminalistische wie Rath. Meist ist er aber historisch interessiert oder auch genealogisch, wie die vielen Internetseiten zur Ahnenforschung zeigen. Am ehesten freuen sich Astronomen über Entdeckungen von Laien. Unbestritten, dass manche Tierart oder Gattung von Hobbyforschern entdeckt wurde; außerdem liefern Vogelbeobachter der Ornithologie auch unweit von Kosel an der Ostsee zuverlässige Bestandswerte.


Ethnologen wie Kaschuba erkennen die Leistungen der Laienforscher an, anders als viele Historiker, die nicht sparen mit Häme und Kritik an den eifrigen Amateuren. Kaschuba gesteht: „Die Laien können uns überlegen sein, denn ihre erste Pflicht ist die Liebe zum Detail. Warum sind bayerische Trachten mit diesem oder jenem Webfaden gemacht? Die europäische Ethnologie geht von Wissenskulturen aus, wo es keine Grenzen gibt.“

Davon profitieren neben der Wissenschaft genauso Dorfgemeinschaften wie Kosel. Kaschuba sieht hier „die Suche lokaler Gesellschaften nach Authentizität, nach Einmaligkeit. Für die ist es symbolisches Kapital, gleichzeitig Kapital für die Zukunft.“

Zählen, sammeln, sortieren oder Dingen schlicht auf den Grund gehen. Gisela Rath nennt das „an der Rückseite kratzen. Bei allem.“ Die Witwe und gelernte Verkäuferin verabscheut es, „Dinge einfach hinzunehmen. Es gibt so viele Sprichwörter, die sagen, so ist das. Punkt. Das finde ich falsch.“

Nichts anderes als ein Wissenschaftler tut sie, wenn sie erst einmal Fragen stellt, ziemlich einfache sogar, wenn sie über den Kieselsteinweg zur Koseler Kirche geht und nachdenkt, „wie viele hier auf diesen Steinen schon geweint, gelacht oder getrauert haben“. So fängt aller Laienforschertrieb an.

Und Gisela Rath möchte weiter bohren, sie will noch Gerichtsakten aus Schleswig einsehen, um Prozessdetails zu erfahren. Nebenbei wird sie nicht nur weiter auf den Heimatabenden vortragen. Regelmäßig liest sie eigene Geschichten und Erzählungen vor einer Seniorengemeinschaft, auf Feiern des Deutschen Roten Kreuzes oder des örtlichen Segelklubs. „Op Platt natürlich“, zieht sie gewichtig die Augenbrauen hoch.

Viel mehr noch als eine lückenlose Aufklärung des Mordfalls wünscht sie sich Nachahmer unter den älteren Menschen. Während man landläufig glaubt, kaum einer der jungen Generation interessiere sich mehr für die Erlebnisse der Älteren, jene Geschichten, die ein so langes Leben wie das von Rath aus sich selbst heraus erzählt, macht die 84-Jährige andere Erfahrungen. „Alt spricht nicht mehr mit Jung, nicht umgekehrt“, sagt sie. „Ich vermisse eine Bereitschaft älterer Menschen, auf die Jungen zuzugehen und ihre Geschichte zu erzählen. Es heißt, wir haben Kinder großgezogen, das reicht so weit.“ Das sei bedauerlich, „aber der Mensch ist leider vom Herdentier zum Einzelgänger geworden“.

Spätestens auf dem nächsten Heimatabend wird man ihr indes wieder zuhören, ihren plattdeutschen Geschichten lauschen und auf neue Details warten, wenn sie wieder in die Rolle der Miss Marple schlüpft.

Quelle: Rheinischer Merkur Nr. 17, 23.04.2009

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